Es ist Sommer in Berlin. Es ist warm, die Menschen tragen luftige Kleidung, sie minglen abends in Sandalen in Restaurants und am Tresen, ihre nackten Beine berühren sich, sie stoßen mit eiskaltem Weißwein an, sie lachen und flirten, schwitzen ein wenig und haben diese wunderbare Aufgeregtheit in sich, die der Sommer und all die Möglichkeiten, die er bietet, so mit sich bringt.
Und dann. Gehen sie aufs Klo. Zu zweit, zu dritt. Alle wissen, was sie da machen. Alle halten es für ein gemeinschaftliches Geheimnis. Dazugehören.
Warum machen sie das? Warum quetschen sie sich in eine Toilettenkabine, hacken weißes Pulver klein, schieben es in Linien, rollen Scheine und reichen sie sich hin- und her? Vielleicht, weil sie zu viel Alkohol erwischt haben - Kokain stabilisiert. Vielleicht, weil sie nicht anders können - Kokain macht schwer psychisch abhängig. Vielleicht, weil sie sich glamourös fühlen wollen - Kokain hat seltsamerweise einen reineren und besseren Ruf als viele andere harte Drogen (was natürlich absoluter Bullshit ist. Jeder, der kokst, hat buchstäblich Blut an der Nase kleben. Diesen Artikel über die Berliner Doppelmoral fand ich auch sehr lesenswert). Vielleicht machen sie das auch, weil sie das Ritual mögen, das geteilte Geheimnis, das Zusammensein. Kurzzeitig fühlt es sich an, als würde das gemeinsame Konsumieren Verbindung schaffen.
In meinem engen familiären Umfeld bin ich schon als junges Mädchen mit schwerer Kokainsucht konfrontiert worden. Viele der Themen, die mich heute noch begleiten und an denen ich arbeite, führe ich darauf zurück. Noch heute verkläre ich die Dinge manchmal, denke: Vielleicht war es nicht (nur) die Droge? Aber mit dieser Geschichte würde ich felsenfest behaupten: Kokain ist der absoluter Killer aller menschlichen Beziehungen. Es lässt einen jegliche Empathie vergessen, man wird Ich-zentriert, fühlt sich stark, selbstbewusst, sieht die anderen nicht mehr so richtig. Auf Dauer schädigt es das Gehirn, die Wahrnehmung, das Empathie-Zentrum. “Man wird ein Arschloch”, sagt man so - es ist die Wahrheit. Von den körperlichen Folgen fange ich erst gar nicht an.
Und doch. Das weiße Pulver ist überall. Es ist die Droge unserer Zeit. Klar. So ein bisschen Arschloch sein, nicht so weich, leicht verwegen, das ist etwas Erstrebenswertes. Dazu kommt: der Rausch ist gut kontrollierbar, er hält nicht lange an. Man wird leistungsfähiger, viele koksen tatsächlich auch, um das Tempo halten zu können (gutes Buch dazu: “Super, und dir?”). Und - wie gesagt - Koks hat immer noch einen „schicken Ruf“. Die Kurven steigen. Es zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Koks ist männlich. 85% der Konsumenten sind Männer. Es macht viele Parties kaputt, alle sind ja dann nur noch “für sich”. Eine Freundin war vor Kurzem auf einer Hochzeit, auf der ausdrücklich darum gebeten wurde, nicht zu koksen. Wunderbar, dachte ich. Habe ich diesen Newsletter geschrieben, um über Koks zu lästern? Vielleicht ein bisschen. Vor allem aber, weil ich finde, wir sollten alle viel mehr über Drogen im Allgemeinen reden.

Der Psychiater Felix Betzler sagte in einem (großartigen!) SZ-Beitrag einen Satz, den ich seitdem oft zitiere: „Kokain hat für die Gesellschaft, aber auch für das Individuum keinerlei Mehrwert.“ Im Gegensatz zu anderen illegalen Drogen: Amphetamine, MDMA, LSD und der Zauberpilz-Wirkstoff Psilocybin hätten „großes therapeutisches Potenzial“.
Es gibt Menschen, die interessieren sich nicht für Rausch-Zustände. Und ich nehme es komplett an, wenn Freund_innen, die sich da komplett raushalten, die Enthaltsamkeit propagieren. Gesund ist Rausch selten, mit Risiko verbunden wahrscheinlich immer.
Nicht alle mögen Rausch - aber viele.
Aber die Menschen haben zu allen Zeiten Substanzen getrunken, geraucht oder geschnupft, die ihr Bewusstsein verändern. Es ist unsinnig, das zu ignorieren und zu denken, Verbote würden dieses Bedürfnis regulieren. Auch mich hat der Rausch immer fasziniert. Viel zu früh, würde ich heute sagen. Zusätzlich bin ich ein Genuss-Mensch, ich esse gerne, ich mag wirklich den Geschmack von Wein (vor allem in der Kombination mit Essen, mmmhhhh), ein asketisches Leben ist nichts für mich - und so geht es vielen.
Vor diesem Hintergrund finde ich, wir müssen das ganze Thema neu diskutieren. Warum sind manche Substanzen legal und andere nicht? Auf der Liste der gefährlichsten Drogen landet Alkohol immer wieder auf Platz eins. Auch er zerstört Familien, macht kaputt, krank, aggressiv, abhängig, ist enorm gesundheitsschädigend. Und legal.
In diesem wundervollen Radio Eins Feature habe ich den Satz gehört: "„Alkohol ist ein tolles Genussmittel - aber als Rauschmittel ist es nicht geeignet.“ Wie erhellend! Aber da es in unseren Breitengraden (ich komme aus Bayern, da ist es noch krasser als in Berlin) gesellschaftlich akzeptierter ist, alkoholkrank oder sturzbesoffen zu sein, als nicht zu trinken („Ach so, bist du schwanger?“ „Ach echt, nicht mal ein Glas Cremant zum Anstoßen?“), ist es schwer, zu widerstehen und nur beim “Genuss” zu bleiben. Es geht schneller, als viele wahrhaben wollen, dass der Konsum bedenklich wird. Man muss weder täglich konsumieren, noch zittern oder Entzugserscheinungen haben, um ein Suchtproblem zu haben. Das gilt für alle Drogen. Gerade im Rahmen von “Ausgehen” ist es ganz objektiv so: Da geht es an ganz vielen Stellen nicht um Musik, nicht um Clubkultur. Es geht um Drogen konsumieren. Und nur weil der Konsum “nur am Wochenende” passiert, heißt das nicht, dass da viele (teilweise SO junge) Menschen dabei sind, die eigentlich schon lange nicht mehr ohne können.
Koks also Mist, Alkohol Mist. Rauchen auf jeden Fall auch absoluter Mist.
Alle Drogen Mist? Kann man so sehen.
Aber ich glaube daran, dass es Substanzen gibt, die in niedrigen Dosierungen (und im Idealfall begleitet) nicht schädlich sind und sogar einen enormen Benefit haben können - in psychologischer Hinsicht. Es war lange verboten, psychedelische Substanzen wie LSD, MDMA oder Psilocybin (sprich: Pilze) zu erforschen. Nun weiß man aber ziemlich genau, dass sie zur Behandlung von psychischen Erkrankungen beitragen können.
In Australien ist die Verschreibung von Psilocybin und MDMA seit Juli erlaubt. In verschiedenen Studien wurden zuvor beeindruckende Resultate bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erzielt.
Auch Ketamin hat sich in Form einer Ketamin-Infusionstherapie bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen bewährt. (Ketamin ist übrigens auch in Deutschland ein verschreibungspflichtiges Medikament, fällt also nicht unter das Betäubungsmittelgesetz - wird aber natürlich trotzdem missbraucht)
Es gibt also Substanzen, die gleichzeitig Partydroge sind und bei der Heilung von Traumata helfen können. Weil sie stimmungsaufhellend wirken, werden sie auch bei Depressionen eingesetzt. Wenn es um “Microdosing” geht, denke ich eigentlich, dass die positiven Aspekte überwiegen.
Fasziniert hat mich in der Hinsicht “A Really Good Day” von Ayelet Waldman (HIER könnt ihr ein Book Review lesen). Sie litt jahrelang unter enormen Stimmungsschwankungen, die auch hormonelle Ursachen hatten (Viele Frauen in ihren späten Dreißigern und Vierzigern horchen jetzt sicher auf, denn sie kennen das). Irgendwann begann sie, täglich LSD in Mini-Dosen zu konsumieren. Seitdem geht es ihr gut. Ist es also Zeit, manche Drogen aus der Schmuddel-Ecke zu holen - und andere vielleicht endlich mal reinzustecken?
Könnte man sagen. Aber so einfach ist es nicht.

Wo setzt man die Grenze? Psychedelische Drogen sind immer noch Drogen. Das ist nicht für jeden Menschen etwas und Horrortrips und Psychosen sind eine nicht seltene Folge. Gerade junge Menschen nehmen gerne zu viel, wollen an ihre Grenzen gehen. Bei allen Party-Drogen wird standardmäßig überdosiert, gemischt und das alles auch noch mit Alkohol kombiniert - dann kann es richtig gefährlich werden, therapeutisch ist das natürlich nicht mehr.
Die Sache mit der Eigenverantwortung
Nun wird Cannabis wahrscheinlich in Deutschland bald teilweise legalisiert. Dann sind Kauf und und Besitz von maximal 25 Gramm straffrei und es wird "Cannabis-Clubs" geben, in denen man das Zeug kaufen kann. Ich habe da zwiespältige Gefühle. Denn auch Kiffen kann richtig blöde Langzeitfolgen haben. Klar, es gibt viele Menschen, die seit Jahren regelmäßig kiffen, denen das hilft und die gut klar kommen. Zudem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Cannabis in der Schmerztherapie richtig viel Sinn macht. Aber dennoch. Es ist wirklich DIE Einstiegsdroge und, wie ich finde, keine harmlose. Ich kenne zu viele Menschen, die schwere psychische Probleme von ihren jugendlichen Bong-Eskapaden davon getragen haben, außerdem noch mehr, die durch die Kifferei jahrelang so antriebslos waren, dass sie nie eine Ausbildung fertig gemacht haben oder einen aktiven Lebensweg eingeschlagen haben. Aber wieder: wo zieht man die Grenze? Bei der Eigenverantwortung? Ich halte viel von der Kampagne, die das Gesundheitsministerium plant: Es soll großflächig darüber aufgeklärt werden, dass das Gehirn bis zum 25. Lebensjahr in der Entwicklung ist. Und dass es deshalb keine gute Idee ist, Cannabis zu konsumieren. Ob das was bringt, schauen wir mal. Aber Aufklärung ist doch schon mal gut.
Meine Kinder wachsen in Kreuzberg auf. Junkies und der Geruch von Marihuana gehören für sie zum Alltag. Sie wissen jetzt schon, was Drogen machen können, welche verschiedenen Substanzen es gibt. Dass sie das Bewusstsein erweitern, die Hemmschwelle sinken lassen, betäuben. Dass manche Drogen schwere Auswirkungen auf das Nervensystem und die Synapsen haben und andere auf die Psyche. Dass wieder andere die Gehirnströme verändern. Ich möchte meine Kinder gerne warnen - und trotzdem werden sie ihre eigenen Erfahrungen machen müssen.
Und ich wünsche mir, dass alle Kinder so gut aufgeklärt werden. Ich denke nicht, dass man ihnen damit einen Floh ins Ohr setzt und sie dadurch erst Interesse bekommen. Sie werden früher oder später ohnehin mit Substanzen in Berührung kommen und dann sollten sie aufgeklärte und mündige Entscheidungen treffen können. Ich bin sogar dafür, das an Schulen zu integrieren. “Grundkurs Suchtprävention”, sinnvoll meiner Meinung nach schon ab der 6. Klasse. Man könnte dort nicht nur über Drogen aufklären, sondern auch über Möglichkeiten, das Nervensystem zu regulieren, über Gefühle und wie man sie bewältigt und mit ihnen umgeht, über Therapie, Atemtechniken, Aggression, Sport und Bindung. Gott, wäre das gut!
Grundkurs Suchtprävention
Wie gesagt, ich bin bei der Legalisierung skeptisch und weiß nicht, was die Lösung ist. Aber wenn man sich in Berlin umsieht, muss sich auf jeden Fall etwas ändern. Heroin und Crack und richtig kaputte Menschen sind überall. In den höheren Einkommensklassen wird in vielen Kreisen unfassbar viel Kokain und Alkohol konsumiert und im Nachtleben auch noch alles andere. Es ist eh schon überall. Und vielleicht ist eine liberalere Drogen-Politik die Antwort. In Portugal zum Beispiel geht man die Sache schon seit 20 Jahren anders an: Wer dort mit Haschisch oder Crack erwischt wird, wird nicht bestraft, aber zum Arzt oder Psychologen geschickt. Dort wird über die Gefahren aufgeklärt und, wenn nötig, eine Therapie angeboten. (Hier könnt ihr eine Arte Doku dazu ansehen). Das ist sehr erfolgreich, die Zahl der Drogensüchtigen geht seit Jahren zurück.
Auch in Deutschland gibt es gute Projekte. Zum Beispiel wird einigen Heroin-Süchtigen ein Mal täglich kontrolliert Diamorphin (quasi sehr reines Heroin) verabreicht, so können sie ein normales Leben führen und kommen raus aus der Illegalität und Beschaffungs-Kriminalität. Der Kern ist hier, Drogensucht als Krankheit anzusehen und nicht als fehlende Willensstärke. Ich habe darüber in diesem Artikel im Tagesspiegel gelesen und finde das klingt sehr sinnvoll.
So oder so: Es muss sich was ändern. Viele Drogen sind ein Problem für eine Gesellschaft - und vielleicht ist darüber reden und nicht so tun, als sei es etwas Geheimes, ein Anfang.
Buchtipps
Ich bekomme oft Nachrichten, die etwa so klingen: „Wie schaffst du es nur, so viel zu lesen?” Die Antwort ist: ich schaffe es nicht immer und nur, weil ich sehr viele andere Dinge nicht (mehr) mache. Kochen zum Beispiel, oder Online Shopping. Abends habe ich mir eine Sperre ins Handy gemacht, wenn die angeht, mache ich mir einen Tee und verkrieche mich mit einem Buch ins Bett. Lesen entspannt mich, es macht mich glücklich - wenn das bei euch nicht so ist, dann macht doch einfach etwas anderes. Serien schauen oder Hörbücher hören, oder mit geliebten Menschen sprechen oder Sport oder was auch immer. Das mit dem Lesen ist kein Wettbewerb, es soll Spaß machen und auch bei mir werden wieder Zeiten kommen, in denen ich weniger lese. Gerade macht es mir Freude, ich habe (auch dank der Trennung) irre viel Zeit und deshalb ist das Pensum hoch. No Pressure!
Meine liebsten Bücher gerade:
Morgen Morgen und wieder morgen - es wurde mir mehrmals empfohlen und es ist wirklich ein absolut wunderbares Buch, auf so vielen Ebenen. Ich konnte es gar nicht mehr weglegen. Einigen Gamer-Freund_innen habe ich es auch schon wärmstens empfohlen. Ich glaube, wenn man das mal so richtig gelebt hat, ist es noch schöner.
Candy Haus : “Der größere Teil der Welt” von Jennifer Egan ist eines meiner liebsten Bücher aller Zeiten. Candy Haus knüpft daran an, man muss den ersten Teil aber nicht gelesen haben. Ich habe gerade erst angefangen mit diesem Buch, aber es hat mich schon total in seinen Bann gezogen. Ich bin gespannt, wer von euch es schon gelesen hat!
Dazu noch ein älterer Tipp, den ich jetzt schon oft verschenkt habe, weil der Roman einfach SO gut zur Mitte des Lebens passt: Auf Wiedersehen von Jasmin Ramadan. Liest sich leicht und flockig und ist richtig unterhaltsam, mit einer Prise Ernst. Mochte ich!
Insta-Tipps
Viele haben Angst vor AI, mir macht es bis dato eigentlich ziemlich viel Spaß. Und ich LIEBE die Fotokunst, die durch AI entsteht. Es macht was mit mir, das anzuschauen, vieles ist so fluffig und poppig, ich bin richtig Fan. Besonders gerne folge ich zwei Accounts. Jonas Petersen, der wunderschöne, alte Menschen und Szenerien schafft.
Und Hassan Ragab, dessen virtuelle Wohnwelten sich sogar schon in meine Träume geschlichen haben. Absolut faszinierend!


Danke für’s Lesen! Wenn euch dieser Newsletter gefallen hat…
Happy Weekend!
