#5 time to leave Instagram?
JA. Aber wer das nicht schafft, kann sein Feed zumindest etwas schöner gestalten.
Wenn ich in den letzten Tagen und Wochen meine Instagram-App öffnete, sah ich neben den üblichen aufgesetzten Mode- und Interieur-Posts auch Videos von verschleppten Menschen und blutenden Kindern. Dann wieder Rezepte, Fun-Memes und ziemlich viel von den Beckhams. Mein Algorithmus kennt mich. Er weiß, dass ich mich für Mode und Oberflächlichkeiten interessiere, dass ich gerne esse und gerade die Beckham-Doku gebinged habe. Aber er weiß auch, dass ich bei politischen Ereignissen nicht wegsehen kann, dafür interessiert mich das viel zu sehr.
Jedoch - dieser Tage ist dieses Medium wirklich der Vorhof zur Hölle. Die schlimmen Videos habe ich aus meinem Feed verbannt, dafür hagelt es in den Stories Vorwürfe, vereinfachte Pseudo-Wahrheiten und Extrempositionen. Der Nahost-Konflikt war schon immer einer, zu dem alle etwas zu sagen hatten, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie. Wer hat krasseres Leid erfahren müssen, wer positioniert sich zu wenig, wer zu viel. Es werden Propaganda-Kacheln geteilt, Influencerinnen bezeichnen sich gegenseitig als Monster, unter Trauer-Postings zum Tod von unschuldigen Menschen nach einem Terroranschlag schreiben die Menschen reihenweise „Ja, aber…“.
Meinen Freund_innen mit jüdischem oder palästinensischem Hintergrund nehme ich es nicht mal übel, dass sie in Zeiten wie diesen nicht klar sehen können (viele können es aber trotzdem und sogar besser als die meisten atheistischen Bio-Deutschen).
Von allen, die nicht direkt betroffen sind, würde ich mir mehr Besonnenheit wünschen. Keine einseitigen Posts. Ich verstehe die Sehnsucht nach einer Schwarz/Weiß-Lösung, aber die gibt es in diesem Fall nicht. Es ist eine Tragödie, die sich nicht auf einen Story-Side herunterbrechen lässt. Ich finde es nicht sinnvoll, sich bei Social Media zu informieren und zu positionieren. Es gibt unzähliges fundiertes Material zu diesem Konflikt und zu seiner Geschichte - auch schon vor 1948. Zur Geschichte und Entwicklung der Hamas und der Rolle von anderen arabischen Ländern. Die Informationen sind alle da. Es ist aber wirklich viel und komplex. Und ich verspreche euch, wenn man sich einliest, also wirklich - dann kann man keine Parolen mehr schreien. Leider scheint es, als wollten das die meisten nicht mal. Sie wollen sich in Kacheln und einzelnen Sätzen informieren, für mehr reichen Zeit und Interesse nicht. Noch gefährlicher finde ich aber, dass Schweigen dieser Tage als Desinteresse ausgelegt wird. Wo soll das hinführen, wenn von Hinz und Kunz in so einer brenzligen Situation politische Statements und klare Positionen verlangt werden?


Das Schöne an all dem ist - ich sehe ja wirklich IMMER das Positive -, dass sich meine Instagram-Verweilzeit von eineinhalb Stunden täglich auf unter 30 Minuten verkürzt hat. Und dass ich mein Feed noch besser aufgeräumt habe.
Zudem habe ich mich noch nie so oft wie in den letzten Tagen und Wochen gefragt, ob es nun vielleicht einfach mal Zeit ist, diese App zu löschen. Das System META ist seit Langem eines, das ich eigentlich verabscheue. Man muss sich vorstellen, dass es einem Milliardär (das Vermögen von Mark Zuckerberg wird auf über 101 Milliarden Euro geschätzt) gehört, der sich die Inhalte, von denen sein Geschäftsmodell lebt, von anderen Menschen gratis erstellen lässt. Eigentlich Wahnsinn, oder? Zudem macht Social Media gerade solchen, die eigentlich von der Erstellung von Content leben wollen, zu schaffen. Ja, es ist auch eine Chance. Aber oft steckt man eben auch Arbeit ohne Ende in die Erstellung von Inhalten, wenn man Glück hat, sehen manche, was man gemacht hat, wenn nicht, dann nicht. Und nach ein paar Tagen ist alles futsch, niemanden interessiert es mehr. Es liegt an diesem brachialen System, dass auch gute Inhalte heutzutage fast nichts mehr wert sind. Virginia Sole Smith spricht mir jedenfalls aus der Seele, wenn sie fragt: Können wir einfach ganz leise damit aufhören? Gemocht habe ich auch den Text von Jonathan Franzen “die Beschissenwerdung des Internets”, er beschreibt darin, wie Plattformen langsam verrotten und ich finde, bei Instagram kann man diesen Prozess ziemlich genau beobachten.

Spannend ist auch, wie die Menschen sich ihren Weg suchen und die Netzwerke je nach Gusto nutzen. LinkedIn fürs Daten zum Beispiel und Instagram als Kleinanzeigen-Ersatz. Dazu kann ich diesen NYT-Artikel empfehlen.
Und jetzt? Ab zu TikTok? Da funktionieren die Algorithmen wohl NOCH besser, aber ich fühle mich zu alt dafür. Bei mir ist es auch so, dass ich Instagram an manchen Stellen immer noch schätze. Ich mag meine kleine Community, ich mag die Inspiration, ich mag es zu sehen, was Freund_innen machen, oft bringen mich die Inhalte auf neue Ideen. Also habe ich beschlossen, einfach radikal auszumisten und meine Bildschirm-Zeit so weit wie möglich einzuschränken. Wollt ihr das auch machen? Es geht so:
Schritt 1:
Vor dem Aussortieren solltet du dir überlegen, wofür du die App magst. Posts von Freunden? Rezepte? Mode? Gesellschaftliche Debatten? Für politische Information würde ich Instagram wie gesagt nicht empfehlen. Ich persönlich finde es aber wichtig, diversen Menschen zu folgen. Also nicht nur Menschen, die einen ähnlichen Lebensstil wie ich haben. Als die Black Live Matters Diskussion heiß kochte, hieß es aus extrem guten Gründen oft, man solle als weißer Mensch unbedingt nicht nur ebenfalls weißen Menschen folgen. Ich habe damals ziemlich viel umgestellt. Zudem folge ich auch Menschen, die politisch anders denken als ich, aber keine extremen Positionen vertreten. Und ich folge Menschen, die ärmer, dicker, weniger privilegiert sind, als ich. So vermeidet man Filter-Bubbles. Wenn ihr für euch definiert habt, was euch die App geben soll, dann geht es los mit dem Aussortieren. Am besten macht man das morgens, wenn der Kopf noch frisch ist und man nicht Gefahr läuft, in einem Insta-Hole zu landen.
Schritt 2:
Ich bin seit 2011 bei Instagram. GANZ früher, oh Gott, das waren schöne Zeiten, hat man in seinem Instagram Feed nur Postings von Accounts gesehen, denen man folgte. Und diese auch noch CHRONOLOGISCH! Es war der reine Traum. Das ist lange vorbei. Jetzt besteht bei den meisten die Hälfte des Feeds aus Werbung und vorgeschlagenen Posts.
Wenn man unten die kleine Lupe klickt, siehst du, was der Algorithmus dir vorschlägt. So bekommst du einen ungefähren Eindruck, was bei dir gespeichert ist. Wie gesagt, bei mir ist das viel Lifestyle, Rezepte und die Beckhams. Meine Tochter hat gerade ein Faible für Hochzeitstorten, irgendwie hat Instagram das auch spitz bekommen.
Das mit der Lupe kann übrigens ganz schön peinlich sein. Bei ein paar meiner männlichen Freunde werden da reihenweise nackte Girls angezeigt. Tja, euer Instagram kennt euch, ihr müsst euch dem stellen.

Geh dann durch dein Feed. Bei jedem Post halte an und überprüfe. Soll mir das angezeigt werden? Oben findest du drei Punkte, hier kannst du die Einstellungen ändern. Du kannst Posts verbergen, Werbung blocken und Vorschläge auf Snooze schalten. Das musst du allerdings alle 30 Tage wieder machen.
Schau dir jeden Post an und überlege: Gibt er mir gute Vibes? Interessiert mich das? Will ich das? Warum folge ich diesem Profil? Ich folge zum Beispiel immer weniger Brands, weil ich nicht so viel shoppen will. Ich folge keinen Exfreunden, deren Life-Updates mir schlechte Laune machen. Menschen, die mich triggern, die mich sauer machen, neidisch - ich folge ihnen nicht mehr.
Du kannst zudem auch mal durch alle Profile gehen, denen du folgst. Wenn du auf deiner Profilseite auf die gefolgten Profile klickst, siehst du zum Beispiel mit welchen Konten du die wenigsten Interaktionen hast und du siehst auch, welche Konten dir am meisten angezeigt werden. Hier kann man alle paar Tage reingehen und einfach mal entfolgen, wenn man denkt, dass man dieses Profil nicht mehr im Leben braucht.
Im Gegensatz macht es Sinn, Creators, die man sehr schätzt, zu abonnieren, ist klar.
Mein Horror sind Stories. Manchmal schaue ich mir gefühlt stundenlang Stories von Menschen an, die mich nicht mal interessieren! Auch hier entfolge ich mittlerweile konsequent. Viele landen auch bei Reels in einer Endlosschleife und ärgern sich danach, wieviel Zeit sie verplempert haben.



Schritt 3:
Hier hilft nur das: die Bildschirmzeit einstellen. Ich empfehle mehrere Schritte.
Direkt in der Instagram App kannst du bei Einstellungen und Privatsphäre unter “Verbrachte Zeit” eine Pausenerinnerung einstellen, einen Ruhemodus und auch ein tägliches Zeitlimit. Bei mir wird nach 10 Minuten eine Pausenerinnerung ausgespielt, die hilft mir sehr, ich überlege, sogar auf 5 Minuten zu gehen. Das tägliche Zeitlimit beträgt bei mir 45 Minuten.
Man kann auch im Gerät selbst ein App-Limit einstellen. All das hilft mir dabei, die App nicht zu oft zu öffnen und sie vor allem schnell wieder zu schließen und nicht darin zu versinken. Klar, man kann sich dann selbst austricksen, aber wenn ich das 2x gemacht habe, schäme ich mich vor mir selbst - und lege das Handy weg.
Ach ja, Push-Nachrichten ausstellen ist eh essentiell. Das habt ihr hoffentlich schon getan?
Ich habe mir zudem eine tägliche komplette Handy-Auszeit eingestellt. Um 22 Uhr gehen alle Apps aus. Dann versuche ich, direkt mit einem Buch ins Bett zu gehen.




Seit meinem Radikalprogramm habe ich wieder das Gefühl, dass Instagram mir mehr gibt als nimmt. Dennoch ist es so, dass ich die App morgens meistens als erstes öffne. Und eigentlich will ich das nicht… Eventuell muss ich sie also doch mal löschen. Viele von euch machen das immer wieder und ich finde das sehr sinnvoll.
Wohin wird sich Instagram entwickeln? Ist die Zeit von Social Media bald vorbei? Twitter/X schafft sich gerade selbst ab, TikTok ist aber groß, Facebook ist nicht mehr relevant, LinkedIn dagegen schon, es gibt noch zig andere Portale.
Wir werden es sehen. Aber vielleicht beschert euch Instagram nach meinem Radikal-Programm auch ein paar mehr schöne und weniger blöde Momente. Es gilt immer: wenn dir etwas schlechte Gefühle macht, ist es Zeit, etwas zu ändern. Und ja, auch das Gefühl, Zeit zu verschwenden, ist ein schlechtes.
Hörbuch-Tipps
Ich höre gerade “Ministerium der Träume” von Hengameh Yaghobifarah und finde es bislang sehr fesselnd und gut. Und obwohl ich Hengameh als Person schon lange interessant finde, ist auch das ein Buch der Sorte “nicht sicher, ob ich es als Papierversion mögen würde”.
Film-Tipps:
Bei der momentanen Weltlage hat man sehr oft sehr viel Lust, sich einfach nur zu verkriechen und in eine andere Welt zu flüchten. Ich sage: einfach machen, DFKultur nennt es gar “die gesündeste Flucht”. Eskapismus ist erlaubt und tut gut! Ich habe in den letzten Tagen die ersten vier Folgen von “Eine Frage der Chemie” gesehen und geliebt, obwohl das Buch auch schon so gut war. Was ich auch so wunderbar finde: mir macht Kochen tatsächlich mehr Spaß, seit ich dabei an chemische Verbindungen denke. Wie clever, dass es sogar eine Rezeptseite zu der Serie gibt.
Außerdem habe ich noch DREI wunderbar leichte und nicht anstrengende Filmtipps für euch:
Brooklyn - eine sweete Lovestory, die in den 50er Jahren spielt. Gibt es bei Disney Plus.
Die statistische Wahrscheinlichkeit von Liebe auf den ersten Blick (Was soll dieser Titel?! Auf Englisch heißt der Film einfach “Love at First Sight”) eine klassische RomCom, ziemlich seicht, aber manchmal muss es ja genau das sein. Gibt es bei Netflix.
AIR - die Geschichte des Air Jordan mit Matt Damon und Ben Affleck. Superguter Film! In Amazon Prime enthalten.
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