
Als ich etwa in der fünften Klasse war, begann ich exzessiv mit Freunden und Freundinnen zu telefonieren. Ich nahm unser burgunderfarbenes Telefon (immerhin schon ohne Drehscheibe) mit in mein Zimmer und schloss die Tür, auch wenn das gar nicht gut für das Kabel war.
Stundenlang sprachen wir am Telefon, meine Freund_innen und ich. Ich kann ihre Telefonnummer noch heute auswendig. Wir lachten, erzählten uns Witze. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, wenn am anderen Ende ein Junge saß, den ich gut fand und dem ich imponieren wollte. Wie warm mir manchmal wurde, wenn es bisschen peinlich wurde. Oder besonders nett.
Bevor man “miteinander ging” oder sonstwas passierte, war es Usus, erstmal ausführlich zu telefonieren. Schön eigentlich, denke ich heute. Denn natürlich ist man im direkten Gespräch ungefilterter. Man kann sich die Antworten nicht so gut zurecht legen. Man muss authentischer sein. Dadurch entsteht auch eine besondere Nähe. Und ich behaupte jetzt hier einfach mal: beim Texten kann es die gar nicht geben.
Dieses wohlige Gefühl, wenn man mit geliebten Menschen spricht. SPRICHT, nicht schreibt.
Obwohl ich das so empfinde, telefoniere auch ich nur noch mit wenigen Menschen regelmäßig. Mit meiner Mama - klar. Und es gibt ein paar Freundinnen, mit denen ich mich fast ausschließlich am Telefon update. Die meisten leben in meiner Heimat und sind meine vertrautesten Soulmates.
Vor ein paar Wochen erst haben mich an einem Tag gleich zwei Freund_innen angerufen, mit denen ich gar nicht soooo eng bin, die ich aber unheimlich mag. Da ist mir mal wieder aufgefallen, wie wunderbar Telefonieren ist. Wie warm und lieb wir miteinander waren, wie lustig und schlagfertig und spontan. Wie geborgen und wohl ich mich gefühlt habe. Wie gesehen. Ich sollte viel öfter telefonieren, dachte ich!
Die Realität sieht anders aus: Selbst ich, die ich eigentlich immer noch den Wert von Telefongesprächen kenne, erschrecke regelmäßig, wenn das Telefon klingelt. Ups! Oh Gott. Bin ich dafür jetzt bereit? Ich lasse es noch bisschen klingeln. Ich rufe zurück. Ok, ich gehe doch ran. Ah, Mist, gerade aufgelegt.
Wenn es dann doch zu einem Telefonat kommt, dann nehme auch ich das Telefon fast nie mehr ans Ohr. Ich bin immer leicht genervt, wenn mir jemand als iMessage Sprachnachrichten schickt, weil man die nur am Ohr oder mit Kopfhörern abhören kann. Telefonieren - Ok. Mit einer Hand am Ohr - total Boomer. Zuhause mache ich den Lautsprecher an, unterwegs fummle ich die AirPods aus der Tasche. „Sorry, warte, meine AirPods…..“ So beginnt doch fast jedes Telefongespräch, oder?
Die Vermeidung der direkten Gespräche - sie passt zu unserer Zeit
Woher kommt diese Phone Anxiety? Angeblich haben 76% der Millenials und 40% der Baby Boomer Generation leichte Panikgefühle, wenn das Telefon klingelt. 61% der Millennials vermeiden Telefongespräche deshalb komplett (42% der Boomer).
Es macht auf so vielen Ebenen Sinn. Auch ich habe oft das Gefühl, dass mir Telefonate viel Zeit stehlen. Texten kann man gut "so nebenbei”. Passend zu einer Tendenz unserer Zeit, sich nicht mehr “committen” zu wollen, und nur eine kuratierte Version von sich preis zu geben, sind auch Textmessages im Vergleich zu Telefongesprächen die unverfänglichere Kommunikationsebene. Zudem kann man sich bei einem Text besser überlegen, was man sagen (oder eben nicht sagen) will, wie man den Tonus gestaltet, etc. Es ist einfacher, sich so darzustellen, wie man das möchte, wenn man Bedenkzeit hat. Und es gab natürlich schon immer introvertierte Menschen, für die jedes “öffentlich” sprechen eine große Herausforderung war. Diesen kommt die Ära des Textens gerade recht. Eine sehr ruhige Freundin, die es schon immer gehasst hat, direkt mit Menschen zu sprechen, mit denen sie nicht komplett vertraut ist, empfindet diesen Trend als “eine regelrechte Befreiung”.
Aber die Vermeidung von Telefongesprächen hat schon leicht absurde Züge angenommen. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die einige Jahre jünger sind als ich, es richtig übergriffig finden, wenn sie angerufen werden. Selbst Menschen, die schon oft miteinander Sex hatten, haben Probleme damit, sich am Telefon “bloßzustellen”. Telefonieren fühlt sich für sie nackter an als Sex.
Und dann gibt es noch viele “Regeln” der Kommunikation, die meine Mutter sich mit einem Kopfschütteln anhört. Man sollte schreiben, dass man anruft, bevor man anruft (ich halte mich nicht immer daran, und wenn ich einen Anruf ankündige, vergesse ich ihn am Ende oft). Zudem sei eine gute Regel, dass Telefonate sich bei Gesprächen über Gedanken und Gefühle anbieten, Textnachrichten jedoch, wenn es um Informationen und Fakten geht. Das macht Sinn, denn letzteres will man ja vielleicht noch mal nachschlagen. Ich finde aber tatsächlich auch, dass Telefonate im beruflichen Kontext oft mehr Sinn machen, als zig Emails. Sehr oft telefoniere ich mit Kund_innen 10 Minuten und wir klären da mehr, als ich mit anderen über Monate in Emails geschafft habe. WhatsApp finde ich dagegen da oft unangemessen, das scheint aber bei der jüngeren Generation kein bisschen so zu sein. Die schicken sogar Sprachnachrichten, um Business zu klären.
Apropos. Wo bleibt die “Sprachi” in diesem Text? Ich mag sie ja, wenn sie nicht zu lang und nicht völlig willkürlich sind. Oft geht das auch einfach wirklich am Allerschnellsten. Die neueste Empfehlung ist hier: “the only appropriate time to leave a voice mail is when the other person would be genuinely happy to hear your voice”. Da musste ich lachen. Ich gehe einfach mal davon aus, dass meine Liebsten sich IMMER freuen, meine Stimme zu hören. So wie ich es umgekehrt ja auch bei ihnen tue.
Raus aus der Comfort Zone, ran an den Telefonhörer
Long Story short, ich bin dafür, dass wir wieder mehr telefonieren. Ermutige auch meine introvertierten Freund, immer mal wieder raus aus der Comfort Zone zu gehen und einfach anzurufen. Je öfter man es wieder macht, desto leichter geht es. Und diese “truly meaningful voice-based interactions” fühlen sich insbesondere unter Freunden einfach so viel besser an.
Und nicht nur das: Gerade wenn man frisch verliebt ist, gibt es doch eigentlich nichts Schöneres, als zu telefonieren. Die Stimme des anderen hören, echte Interaktion. Viel echter, als immer wohl überlegte Whatsapps und ausgewählte GIFS zu versenden. Werdende Paare sollten viel öfter direkt vom Chat in das echte Gespräch wechseln. Es wird ihnen sicher gut tun. Traut euch!
Was ICH übrigens wirklich übergriffig finde, sind Video-Calls. Ich habe selten ein Problem, mit jemandem zu sprechen, aber in jeder Lebenslage gesehen zu werden, ist jetzt echt nicht mein Ding.
Mein Sohn sieht das nicht so, er ist zehn und Video Calls sind sein liebster Kommunikationsweg. Auch mit seinen Freunden kommuniziert er meist so.
Vielleicht macht die nächste Generation es also wieder komplett anders und nach der Phone Anxiety kommt die Complete Video Disclosure?
Es bleibt auf jeden Fall spannend.
Doku-, Podcast- und Buch-Tipps.
Naaa, Bock auf ne kleine Zeitreise?
Ich habe mir letzte Woche die volle 90er Dröhnung gegeben und mir die ARD Dokumentationen zu ECHT und VIVA angesehen. Ich war natürlich nie Echt-Fan (uncoooool), aber vor ein paar Jahren habe ich mal ein Interview mit Kim Frank gelesen und dachte: Wow. Cooler Typ. So bei sich, so modern, so viele gute Aussagen. Ich mochte insbesondere auch, wie er auf die Frage nach seinem Aussehen reagiert hat: „Mir war schon mit 17 klar, dass ich mit 45 aussehe wie so ein deutscher Detlef. Weil das einfach meine Veranlagung ist.“ Souverän. Und so ist auch die Doku, die zwar voll mit Teenie-Quatsch und Pickeln und Stinkesocken und Händchenhalten ist (bisschen cringe) aber auch sehr weitsichtig, reflektiert und unterhaltsam. Ein schönes Erinnerungsstück über eine krasse Zeit.
Ähnlich ging es mir bei der VIVA-Doku. Ich kann mich noch daran erinnern, wie das war, als VIVA an den Start ging. Wie wild und dilettantisch und uncool, im Gegensatz zu MTV das war. Aber genau das war es, was VIVA ausgemacht hat. Ich hatte viele schöne Flashbacks beim Schauen, außerdem moderiert Nils Bokelberg und den lieb ich echt sehr.
Passend dazu kann ich den Podcast “Springerstiefel - Fascho oder Punk” empfehlen. Er handelt von Jugendkultur in Ostdeutschland in den 90ern. Damals trugen die meisten Jugendlichen Springerstiefeln - die einen als Neonazi, die anderen als Punk. Erschreckend, wie normal Gewalt war. Und unheimlich gut gemacht!
Selbst das Buch, das ich in den letzten Wochen gelesen habe, spielt in den 90er, also genauer gesagt in 1999: “Man vergisst nicht, wie man schwimmt” von Christian Huber. Schönes Buch!
Foodie-Tipp
Dies ist kein Rezept, aber einfach der beste Tipp für alle, die gerne koranisch angehauchte Bowls, á la Bibimbab essen. Ich habe seit Neuestem immer diese Gochujang Paste und Kimchi (großer Luxus: mein Kimchi macht meine Schwiegermutter!) im Kühlschrank. Dazu bisschen Reis und Gemüse, kann auch TK sein. Gurke passt gut, ein Ei natürlich. Alles vermischen, fertig. Eins meiner liebsten Lunch-Gerichte, geht schnell und schmeckt wunderbar. Hier kommt mein zweiter Tipp: Immer bisschen mehr Reis kochen und wenn man asiatisch bestellt, immer eine Extra-Portion Reis mitbestellen. Dann geht das alles NOCH schneller.
In eigener Sache
Für die Dezember-Ausgabe des Endlich-Ich-Abos von OhhhMhhh habe ich einen Text über die “Mutti-Falle” geschrieben. (In die selbst ich superemanzipiertes Wesen getappt bin). Für alle Members und solche, die es werden wollen: HIER entlang. In der Januar-Ausgabe gibt es übrigens gleich wieder einen Text von mir. Es geht um Dating. Oh yeah, ich weiß, dass euch das interessiert.
Thanks for being here!
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