Wenige Gefühle sind so bezeichnend für meine Jugend wie das Gefühl des „sich belohnen müssen“. Am Freitag in die Fußgängerzone düsen, ein bestimmtes Budget auf dem Schirm und dann ab in die Fast-Fashion-Hölle, auf der Suche nach dem einen guten Teil, dem Schnapper, dem Top, dem Kleid, der Handtasche, auf die mich am Wochenende sicher irgendjemand ansprechen würde.
Wir befinden uns am Anfang der Nullerjahre, es gibt noch kein Fast-Fashion-Shaming. Als Zara in der Münchner Fußgängerzone eröffnet, feiern meine Freundinnen und ich das als Errungenschaft, die guten Looks scheinen zum Greifen nah und „noch billiger als Mango!“. Mein Kleiderschrank wächst ins Unermessliche, trotzdem ziehe ich nach wie vor fast jede Woche los. Manchmal kehre ich mit leeren Händen zurück, aber - seien wir ehrlich - selten. Mein zweites Hobby ist ja Ausgehen, man möchte eher nicht zwei Mal mit dem gleichen Outfit auf der Tanzfläche gesehen werden, also muss ständig Nachschub her.
Zwei Mal das Selbe anziehen? Never.
Einmal lief ich mit einer meiner besten Freundinnen in einem Club ein, die Party fand zum ersten Mal statt, wir wussten nicht so genau, heute würde man sagen, wir „fühlten es nicht“. Beide trugen wir Trenchcoats, es muss Frühjahr gewesen sein, oder Herbst. Nach ein paar Minuten saßen wir an der Bar und meine Freundin sagte: „Das wird nicht gut hier heute. Komm, wir gehen wieder.“ Ich entgegnete: „JA. Dann können wir morgen auch noch mal das selbe anziehen!“ Wir lachten, aber es war uns ernst. Wir hatten unsere Mäntel nicht ausgezogen, ein Outfit „gespart“, es fühlte sich wie ein kleiner Gewinn an.
Später flog ich mit genau dieser Freundin auch mal für ein Wochenende nach Barcelona „zum Shoppen“. Da gab es andere Ketten, als bei uns, Stradivarius und Bershka zum Beispiel. Außerdem TOPSHOP - unser Paradies. In London habe ich oft ganze Tage dort verbracht. KEINER hatte in München, was ich dort fand. ALLE sprachen mich drauf an. Die Flüge waren billig, wir übernachteten in einer schäbigen Jugendherberge, flogen mit einem leeren Trolley hin - und mit einem vollen zurück. Wie gesagt, es waren die Nullerjahre. Es gab auch kein Flight-Shaming. Wir stellten das nicht in Frage, wir liebten es. Und ich hatte immer das Gefühl, dass ich mir das verdient habe, als Ausgleich zu meinem trockenen Politikstudium, das ich mir ohne Bafög oder elterliche Unterstützung komplett durch harte Kellnerschichten in diversen Cafés und Restaurants finanzierte. Und als Ausgleich für eine Kindheit, die zwar sicher nicht in armen, aber doch in kargen Verhältnissen stattgefunden hatte. Ich hatte wenig Spielsachen, kein Barbie-Haus und keine Masters of the Universe-Burg. Es gab irgendwann einen Game Boy, aber wenig Spiele, um die erste 501 musste ich lange betteln - und weiß noch heute, wie gut es im “Jeans Kaltenbach” in der Münchner Innenstadt gerochen hat.
Nach Konsum.
Dieses Gefühl, mit ein paar Tüten „aus der Stadt“ zu kommen, alles noch mal anzuprobieren, sich auf den Abend zu freuen, an dem man die neuen Teile dann ausführen würde - unbezahlbar. Dopamin pur. Für mich immer wieder ein Kick. Über Jahrzehnte.
Natürlich kamen irgendwann Zweifel. Ich hatte mehr als genug von allem und merkte, dass ein Paar richtig gute Teile (unvergessen: Ballerinas von Marc Jabobs, gekauft bei Off&Co im Sale, oder die erste Isabel Marant Bluse, gekauft bei Theresa, natürlich auch im Sale) langfristiger glücklich machten, als das billige Zeug. Nur konnte man sich das natürlich nicht so oft leisten. Mein Kleiderschrank quillte über, auf dem Flohmarkt verkaufte ich die ganzen Tops irgendwann für einen Euro. Ich begann, weniger Kleidung zu kaufen, aber diese „Treat-Culture“, die blieb mir erhalten. Und so wie mir, geht es sehr vielen Millennials. Ich erinnere mich aber auch an „ausgeglichene“ Zeiten, in denen ich kaum etwas kaufte, zum Beispiel während ich meine Magisterarbeit schrieb. Ich verbrachte den Tag in der Bibliothek, abends ging ich im Englischen Garten laufen. Ich war so ausgelastet und zufrieden, dass ich nicht mehr an neue Klamotten dachte - ein gutes Gefühl.
Aber das währte immer nur kurz. Wie oft saß ich - mittlerweile lebte ich in Berlin - in meinem Büro-Job und freute mich auf nichts mehr, als dass ich nach Feierband noch eine halbe Stunde Zeit eingeplant hatte, die ich in den Galeries Lafayette verbringen würde. Vielleicht würde ich im Sale bei Sandro was finden? Oder zumindest feine, französische Kekse in der Feinkost-Abteilung. Dass das ein Indikator dafür war, wie unzufrieden ich eigentlich war, das habe ich nicht gesehen damals. Das mit den „Belohnungen“ war ja schon so lange ein Teil von mir.
Irgendwann kamen die Kinder dazu, die Familie, die Begehrlichkeiten veränderten sich. Ein schönes Möbelstück, eine Lampe von LOUIS POULSEN, ein Kissen von HAY sollten es nun sein. Schöne Kleidung für die Kinder, Sales und Ebay Kleinanzeigen danach durchforsten. Und immer wieder die „kleinen Belohnungen“. Eine Zeit lang war das bei mir Nagellack, man geht ja so oft in die Drogerie mit kleinen Kindern und Essie hat so schöne Farben! Aber irgendwann sieht das dann eben so aus.

Irgendwann hat man über 50 Fläschchen Nagellack und versehentlich drei Mal den gleichen Rot-Ton gekauft. Also lieber Kaffee, der gute, teure, im To-Go-Becher. Der ist dann wenigstens weg, nur die Recup-Becher sammeln sich an. All diese kleinen Belohnungen für den Alltag. Und immer wieder: Klamotten. Schuhe. Taschen. Schmuck.
Fast Fashion war nicht mehr cool, damit konnte man sich schwer schmücken, also zwei Mal im Jahr die Sales der High Fashion Shops durchwühlen und zwischendurch die Second Hand Portale. In der Corona-Zeit habe ich Stunden um Stunden auf „Sellpy“ verbracht, eine Seidenhose von Chloé, ein Wollrock von Carven, zig gute Teile - und viele Fehlkäufe, die dann doch nicht so gut aussahen. Ob ich süchtig war? Ich bezeichnete es als „mein Hobby“, aber ja, ich war schon sehr darauf programmiert, abends auf dem Sofa die einzelnen Apps zu öffnen, ich verbrachte wirklich viel Zeit damit.
Ein Hobby - und eine Kompensation.
Anfang des Jahres habe ich mich von meinem langjährigen Partner getrennt, der fand mein Shopping-Verhalten immer mindestens ein bisschen bedenklich, „Bulimie“ nannte er es manchmal und das trifft es schon. Wunschlisten befüllen, Warenkörbe, bestellen, zurück senden. Offline war es manchmal „reservieren lassen“, zurück fahren, kaufen, dann doch wieder umtauschen. Er ist eher so der Typ, der sich alle zwei Jahre drei T-Shirts kauft und in den Urlaub nur das Allernötigste mitnimmt. Ich habe viel von ihm gelernt, aber mein Verhalten verändern wollte ich nie. Als er ausgezogen war, war mein Korrektiv weg und natürlich artete es erstmal aus. Das Wetter war schlecht und auch wenn es eine einvernehmliche Trennung war, die ich zu keinem Zeitpunkt rückgängig machen wollte, war ich traurig und verwirrt, musste verarbeiten und heilen. Ich kaufte wieder viele Klamotten. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass mit meinem neuen Single-Status eine neue Identität in mein Leben gezogen war - und dass ich plötzlich wieder viel Zeit zum Ausgehen hatte. Das alles sollte sich in meinem Stil wiederspiegeln und ich hatte ja „nix anzuziehen“. Im Juni habe ich dann die Reißleine gezogen. Stopp. Schluss, aus, keine Kleidung mehr - und auch keine anderen „Belohnungskäufe“.
Parallel las ich immer wieder über einen Little Treats Trend bei TikTok und musste schmunzeln. Ich war anscheinend nicht alleine mit meiner „Belohnungs-Sozialisierung“. Klar, wir leben in einer Gesellschaft, in der Konsum positiv konnotiert ist - er trägt ja auch zum Wirtschaftswachstum bei. Dazu kommt dieser andauernde Wunsch nach Distinktion oder Dazugehören, je nachdem. Gerade jetzt sind „Little Treats“ aber wohl Trend, weil durch die Inflation „große“ Belohnungen wie Flugreisen oder Luxus-Güter (für Viele) unerschwinglich geworden sind. Da braucht es dann den Matcha-Latte to go, den hübschen Lippenstift. Hauptsache Konsum. Die Kommentare waren voll mit „Das bin ich mir wert.“ „Das lass ich mir nicht nehmen“ und auch in vielen Artikeln werden die Benefits der Little Treat Culture beschrieben. „Little treats promote joy and resilience“, „indulging in small treats can help you cope with tough times“.
Glück und Resilienz durch Konsum?
Spannend fand ich auch, dass es wohl einen erwiesenen Zusammenhang zwischen “cuteness and consumption” gibt. Das kommt aus Japan, wir wissen alle, wie viele “kawaii (cute) products” da her kommen. Die Idee: “to cope with stress and reconnect with your childhood self“. Looking at you, Scandi Labels! Klappt bei mir auf jeden Fall.





Mein eigenes kleines “No Treats, no Shopping” Experiment läuft bisher ausgesprochen gut und vor allem viel besser, als erwartet. Natürlich verzichte ich nicht völlig auf Konsum, aber es ist jetzt eher ein gutes Buch, eine schöne Yoga-Stunde, ein besonderes Essen oder ein Konzert-Ticket, das ich mir gönne. Irgendwo habe ich auch gelesen, dass genau das, also “experiential purchases”, uns glücklicher und zufriedener macht, als physische Produkte. Ich musste mich ein bisschen umprogrammieren. Die Zeit, die ich vorher auf Shopping-Apps verbracht habe, verbringe ich jetzt eher vor meinem Schrank, um mir Outfits zusammenzustellen. Aber nein, das stimmt nicht. Es bleibt unendlich viel Zeit übrig, die ich mit Lesen und anderen Dingen verbringen kann. Es war nicht schwer, mein Gehirn umzuprogrammieren. Und ich habe enorm viel gewonnen!
Seit über zwei Monaten habe ich mir nichts mehr gekauft. Kein Kleidungsstück, keine Durftkerze, keine teure Handseife. Und ich muss das feststellen, was ich schon immer wusste. Wenn es einem gut geht. Wenn man zufrieden ist mit seinem Leben, ausgeglichen, wenn man Beziehungen hat, die einen nähren und stärken, einen Job, der erfüllt, aber nicht stresst. Dann braucht es keine “Treats”. Dann habe ich zumindest nicht das Gefühl, mich für irgendwas belohnen zu müssen. Und, oh boy, ist das ein befreiendes Gefühl. Gut, es ist Sommer. Gut, ich musste relativ wenig arbeiten. Ich will es nicht verschreien und es kann sein, dass ich in der dunklen Jahreszeit rückfällig werde. Aber momentan ist es mein Ziel, immer wieder diesen Zufriedenheits-Zustand herzustellen. Wenn ich das Bedürfnis habe, mich zu “belohnen”. Wenn ich abends auf eine Shopping-Seite drifte, dann ist das jetzt ein Warnsignal. Dann muss ich wohl eine Runde Yoga einlegen, ein gutes Buch lesen oder eine Freundin anrufen. So ist das bei mir. Für jeden Menschen funktionieren auch andere Dinge, um ausgeglichener zu sein.
Und für Andere ist es das Glas Wein am Abend, oder das Party-Wochenende (“endlich loslassen”), mit dem sich sich belohnen. Dass das auch nicht gerade gesund ist, muss ich sicher nicht erzählen. Sogar der ständige Griff zum Handy kann ein Ventil sein. Das Dopamin lauert überall. (Es gibt ein spannendes Buch darüber: “Die Dopamin-Nation” HIER gibt es ein Interview mit der Autorin.)
Ich bin mir ganz sicher, dass diese Belohnungskultur uns nicht resilient und glücklich macht. Resilienz und Glück bekommen wir viel eher durch Reflexion, durch Beziehungen, durch Erfahrungen und durch Bewegung. Oder was auch immer für euch funktioniert.
Am Ende muss ich noch Barbara Vorsamer zitieren, sie ist einer der Hauptgründe, warum ich immer noch die SZ abonniert habe. Sie schreibt: “Ein Mensch, der selbstzufrieden durch den Wald schlendert und gar nichts will, kein Bier und keinen Schokoriegel, keinen neuen Bikini, keine Yoga-App und auch keine fünf Kilo weniger – so ein Mensch wäre wirtschaftlich ein Problem. Doch er wäre glücklich.”
Immer wieder genau so ein Mensch zu sein - das ist mein Ziel.
(HÖR-)BUCHTIPPS
Wer mir auf Instagram folgt, weiß, dass ich einen ziemlich großen Buch-Verschleiß habe. Ich lese meine Bücher tatsächlich zu 90% auf Papier. So richtig Old School, am besten im Hardcover. Ich habe keinen Kindle und bin so viel am Handy, dass auch die Kindle App nichts für mich ist. Aber ich liebe Hörbücher! Vor allem während ich Hausarbeit erledige (Wäsche falten, Aufräumen, sauber machen - Staubsaugen geht nicht so gut) und auf Wegen von A nach B. Meine letzten beiden Hörbücher sind zwei wahnsinnig “zeitgeistige” Romane: “Identitti” und “Schönwald”. Je nachdem, bei welchem Musik-Streaming-Anbieter ihr seid, gibt es sie sogar ohne Extra-Kosten (so rechtfertige ich übrigens immer mein Spotify-Abo, das ich ansonsten zu wenig nutze: es spart mir 1-2 Bücher pro Monat!).
Bei beiden Romanen bin ich mir nicht sicher, ob ich sie gelesen mögen würde. Schönwald ist ein bisschen aufgesetzt und überzogen - aber sehr unterhaltsam. Wer meint, der Plot kommt bekannt vor: Ja, der Autor hat die Geschichte rund um die Eröffnung des queer-feministischen Buchladens “She Said” fast 1:1 übernommen. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich das Buch lesend (es ist auch ein ganz schöner Schinken) mögen würde, als Hörbuch finde ich es mehr als unterhaltsam!
Identitti ist fast noch zeitgeistiger. Es geht um Wokeness, Rassismus, Identität. Der Plot ist schnell erzählt: Eine Professorin für Postcolonial Studies, die sich als Person of Colour beschrieb, ist eigentlich weiß. Die Geschichte rund um diesen Skandal ist enorm lustig und gut recherchiert beschrieben. Es gibt sehr viele Zitate und Verweise, sprachlich ist es exzellent aber gewohnheitsbedürftig. Ich bin noch nicht fertig damit, aber kann auch hier sagen: ich höre es mir richtig gerne an!


INSTA-TIPPS
Findet ihr auch, dass Instagram immer nerviger wird? Ich empfinde es mittlerweile als recht kompliziert, ein gut kuratiertes Feed zu haben. Aber zum Glück investiere ich immer noch genug Zeit in die App, um immer mal wieder Perlen herauszufischen. Perle Nummer eins habt ihr sicher schon in variierten Versionen zig Mal gesehen und doch fand ich es einen guten Reminder.
Perle Nummer zwei ist ein Blumenkohl-Rezept von Sophia. Ich liebe ihre Rezepte! (Es gibt auch ein Kochbuch). Sie sind voller Umami, aber nicht völlig abgespaced, auch die Zutaten sind jetzt nicht so, dass man auf zehn Märkte muss, sondern recht “down to earth”. Bei dem Blumenkohl hatte ich sogar alles schon zuhause, ich habe mich gefreut wie ein kleines Kind und es hat SO gut geschmeckt. Auch das Mais-Salat-Rezept will ich bald ausprobieren. Ihr müsst ihre Reels übrigens UNBEDINGT mit Ton ansehen.
Thanks for reading <3
In 2 Wochen geht es weiter hier. Ich habe schon viel Feedback zur Themenliste bekommen und es wird auf jeden Fall spahaaannend. Schön, dass ihr dabei seid! Teilt den Beitrag gerne mit euren Liebsten, wenn ihr mögt.
Du hast genau mein Verhalten beschrieben. Wow !